Mehr als ein Wunder
Vom Rollstuhl auf die Marathon-Strecke – eine besondere Patientengeschichte
Es könnte die Eingangsszene zu einem spannenden Krimi sein: Es ist Nacht. Eine junge Frau ist als Fußgängerin auf einem Gehweg unterwegs als plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, ein Auto frontal auf sie zurast. Sie hat keine Chance mehr auszuweichen. Durch den Aufprall, der ihre Schienbeine zertrümmert, wird sie über das Dach des Wagens geschleudert und landet auf dem harten Asphalt. Mit schwersten Verletzungen bleibt die 28-Jährige liegen, während die Autofahrerin davonbraust, ohne sich um das Unfallopfer zu kümmern. Fahrerflucht – erst Tage später stellt sie sich der Polizei.
Für Denise Leddin aus Reichelsheim war das leider bittere Realität. Als sie im September 2008, zwei Tage später, auf der Intensivstation im Gießener Uniklinikum aus dem Koma aufwacht, kann sie sich an kaum etwas erinnern.Beim Blick in den Spiegel ist sie zunächst erschrocken über ihr blaues Auge. Erst nach und nach wird der 28-Jährigen klar, wie schwerwiegend die Folgen ihres Unfalls tatsächlich sind: Ihre Wirbelsäule ist verletzt, sie hat ein Schädel-Hirntrauma mit Blutungen im Kopf erlitten, ihre Unterschenkelknochen sind zertrümmert. Während Wirbelsäule und Kopfverletzungen unter der Behandlung gut ausheilen, sind es die Beine, die immer wieder Probleme machen. Ein fast zwei Jahre andauernder Kampf beginnt: Acht Operationen, lange Reha-Aufenthalte, immer wieder Rückschläge, Tränen, Verzweiflung aber auch der absolute Wille, diesen Kampf zu gewinnen: „Für mich waren Rollstuhl, Krücken oder Gehhilfen keine Option. Ich wollte laufen. Auch ständig auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, das habe ich gehasst“, erzählt die heute 39-Jährige.
>> Diese Geschichte zu erzählen, kann anderen Mut machen und Hoffnung geben. <<
Unfallchirurg Prof. Dr. med. Gabor Szalay vom Universitätsklinikum Gießen
MEDIZINISCHES KÖNNEN WAR GEFRAGT
Der Unfallchirurg Prof. Gabor Szalay hat den steinigen Weg seiner Patientin ein langes Stück begleitet. Achtmal hat er Denise Leddin operiert und bei so vielen Kontrollterminen ihre Enttäuschung erlebt, wenn die Knochen wieder mal nicht heilen wollten: „Da sind schon viele Tränen geflossen und wir mussten neu überlegen, was zu tun ist. Aber aufgegeben hat sie nie. Das war großartig“, erinnert sich der stellvertretende Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie. In diesem Fall waren einmal mehr sein Können und seine jahrelange Erfahrung in der Unfallchirurgie gefragt: Zweimal hat er bei der jungen Patientin Knochengewebe aus dem Beckenkamm entnommen und in die Unterschenkel implantiert, auch eine Metallplatte musste eingesetzt werden, um die komplizierten Brüche zu stabilisieren. Seine Prognose damals: „Grundsätzlich muss man schon froh sein, wenn man einen solchen Unfall überhaupt überlebt. Ich hätte vermutet, dass bei ihr ein gestörtes Gangbild bleibt, ein Humpeln und möglicherweise Schmerzen durch Arthrosen, die sich in solchen Fällen entwickeln können.“
>> Hier von einem Wunder zu sprechen, wäre zu wenig. <<
Unfallchirurg Prof. Dr. med. Gabor Szalay vom Universitätsklinikum Gießen
Als er vor wenigen Monaten, elf Jahre nach dem Unfall, eine Mail von seiner ehemaligen Patientin erhielt, konnte er kaum glauben, was da geschrieben stand: „Lieber Prof. Szalay, ich bin gerade meinen 1. Marathon gelaufen und möchte mich bei Ihnen bedanken, weil auch Sie das möglich gemacht haben“. Darunter ein Bild mit einer strahlenden Denise Leddin, die beim Zieleinlauf nach über 40 Kilometern die Hände vor Freude in die Luft streckt. „Da hatte ich einfach nur Gänsehaut“, sagt der Chirurg, „Hier von einem Wunder zu sprechen, wäre zu wenig, das ist einfach unglaublich und wenn man diese Geschichte erzählt, das kann anderen so viel Mut machen und Hoffnung geben, dass doch vieles wieder gut werden kann.“
>> Es gab schon dunkle Stunden, aber den Frust wollte ich einfach nicht akzeptieren. <<
Denise Leddin
NACH SIEBEN JAHREN WIEDER IM LAUFTRAINING
Anderthalb Jahre hatte es nach dem Unfall gedauert, bis Denise Leddin überhaupt wieder gehen und auch arbeiten konnte. Davor war sie eine passionierte Läuferin gewesen und hatte regelmäßig trainiert. Daran war danach lange nicht zu denken. Versucht hat sie es aber immer wieder: „Schon in der Reha bin ich auf´s Laufband. `Was wehtut wächst`, das war mein Motto. Natürlich gab es auch viel Frust, aber das wollte ich nicht akzeptieren.“
Sieben Jahre nach dem Unfall war sie dann tatsächlich soweit, das regelmäßige Lauftraining wieder aufzunehmen. Mit einer Freundin tastete sie sich zunächst an die 10 Kilometer heran und ein Jahr später lief sie den ersten Halbmarathon. Und dann gab es kein Halten mehr, das Ziel war klar und in diesem Jahr hat sie es auch eindrucksvoll klar gemacht: In Thüringen und Frankfurt ist sie nun bereits zweimal einen Marathon gelaufen und für den nächsten wird bereits trainiert. Beschwerden hat sie dabei keine, bis auf ein leichtes Druckgefühl im Knie, wenn das Wetter mal kälter wird. „Eins habe ich aus meiner Geschichte gelernt“, sagt die 39-Jährige heute: „Dein stärkster Muskel ist immer dein Wille!“
Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH
Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
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