Herr Professor Hirsch, welche Vorteile bieten sich durch den Einsatz von KI in der Medizin?
Mit KI können beispielsweise digital vorliegende Informationen ausgewertet werden, um möglichst aussagekräftige Diagnosen zu stellen oder optimierte Therapien vorzuschlagen. Das kann für Ärzte eine große Zeitersparnis darstellen.
Warum?
Weil Ärzte heutzutage viel Zeit in Tätigkeiten investieren müssen, die auch eine KI übernehmen könnte, ohne die Behandlungsqualität zu beeinträchtigen. Wenn wir KI-Systeme an den richtigen Stellen im Gesundheitssystem einbinden, profitieren alle davon – Ärzte, Kliniken, Krankenkassen und vor allem die Patienten.
Welche Verbesserungen könnten sich denn für Patienten ergeben?
Das kann schon in dem Moment anfangen, wenn der Patient erste Symptome verspürt. Heute ist es ja so, dass Menschen nach Beschwerden googlen, bevor sie zum Arzt gehen. Leider kommt bei solchen Online-Recherchen selten ein brauchbares Ergebnis heraus. Im schlimmsten Fall wird der Patient schon vor dem Arztbesuch verunsichert oder verängstigt. Aber mit den richtigen KI-Anwendungen können Patienten ein realistisches Anamnese-Gespräch am Smartphone durchlaufen, bei dem Symptome abgefragt und Nachfragen gestellt werden. Am Ende dieser Vordiagnose gibt das System dann transparent Auskunft über das wahrscheinlichste Krankheitsbild.
Und dann geht der Patient damit zum Arzt und sagt: „Mein Smartphone hat bei mir eine Blinddarmentzündung diagnostiziert“?
Hoffentlich nicht. Das würde den Patienten nur in einer trügerischen Sicherheit wiegen. Und für die Akzeptanz von KI-Systemen in der Ärzteschaft wäre ein solches Vorgehen problematisch, zumal Diagnosen ja nur von approbierten Ärzten gestellt werden dürfen. Aber tatsächlich wäre es für den Behandlungsprozess von Vorteil, wenn der behandelnde Arzt die Ergebnisse der KI-Anamnese kennt. Das spart Zeit und gibt ihm die Möglichkeit, diese Vordiagnose zu hinterfragen. Voraussetzung dafür ist natürlich: Das System muss transparent machen, wie es zu seiner Schlussfolgerung gekommen ist, und wie sicher es mit Blick auf das Ergebnis ist.
Schränken solche KI-Vordiagnosen den Mediziner nicht bei der Diagnose ein? Was ist, wenn die KI ein wichtiges Symptom übersehen hat?
Natürlich hat nur der Mediziner den Patienten direkt vor sich und kann etwa das Hautbild, die Stimme oder die Körperhaltung in die Diagnose einbeziehen. Zudem hat ein Arzt im besten Fall auch die Krankheitsgeschichte seines Patienten oder familiäre Prädispositionen im Blick. Auf der anderen Seite: Es gibt aktuell 35.000 verschiedene Krankheitsbilder. Für einen Menschen ist es schlicht unmöglich, alle diese Krankheiten jederzeit präsent zu haben. Schon gar nicht bei dem Zeitdruck, der auf Ärzten lastet, wenn sie eine Diagnose stellen sollen. Eine KI hingegen kann problemlos den kompletten medizinischen Wissensstand durchforsten. Sie kann daher auch seltene Krankheiten in Betracht ziehen und zur weiteren Abklärung vorschlagen.